HATTE SCHWEDT JEMALS 50.000 EINWOHNER ?

Im Folgenden werde ich versuchen, die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Schwedter Einwohnerentwicklung zu erläutern. Oft werden einfach nur die blanken Zahlen aus vergangenen Zeiten mit den heutigen verglichen. So titelte einst die Märkische Oderzeitung vor Jahresfrist im Regionalteil sinngemäß "Einwohnerzahl von 1970 und Geburtenzahl von 1960". Doch wenn man schon Statistik betreibt oder sich darauf beruft, dann sollte man auch wichtige Fakten mit einbeziehen.
Aus verschiedenen Gründen sind die Zahlen aus der Zeit vor 1990 mit denen danach nur bedingt vergleichbar. Verantwortlich dafür ist nicht nur eine unterschiedliche Erfassung der Daten, sondern auch ein unterschiedliches Meldeverhalten sowie die allgemeine Situation der Bau- und Gastarbeiter in der Stadt Schwedt zwischen 1958 und 1990 und heute. Auch ein strafferes Melderegime mit Hausbuch und Wahlstatistiken in der ehem. DDR (dem sich kaum jemand entziehen konnte) und ein laxer Umgang mit der Meldepflicht heute, mit dem Vertrauen auf private Zuverlässigkeit, läßt einen sinnvollen Vergleich der Zahlen aus unterschiedlichen Gesellschaften fast unmöglich erscheinen.
Die Situation ist für die Gegenwart ab 1990 relativ klar und eindeutig. Meldungen werden in Haupt- und Nebenwohnsitz erfaßt. So weist die Statistikstelle der Stadt Schwedt per 31.12.2006 den Einwohnerstand mit 36.677 Personen mit Hauptwohnsitz plus 1.820 Personen mit Nebenwohnsitz aus. Notwendig ist das für verschiedene Planungen, da sich z.B. der notwendige Wohnungsbedarf nach der Gesamtzahl 38.497 richten muß.
In der ehem. DDR wurden dagegen nur Personen mit Hauptwohnsitz erfaßt. Die Zahlen spielten für die Planungen des Wohnungsbaues aber nur eine untergeordnete Rolle. Traten Defizite auf, wurde mit Provisorien reagiert.
Nun könnte man meinen, daß demnach alles klar wäre. Aber Irrtum - hier kommt das unterschiedliche Meldeverhalten zum Zug. Neben der normalen Bevölkerung befanden sich in der Aufbauzeit der Stadt zwischen 1958 und 1990 Tausende von Bauleuten vor Ort. Diese wurden nur erfaßt, wenn sie länger als ein halbes Jahr in der Stadt blieben. Dann wurden sie allerdings gleich mit Hauptwohnsitz geführt. Im Jahre 1966 sollen sich ca. 8000 Bauarbeiter neben den etwa 23000 Einwohnern in der Stadt befunden haben. Nun ist auch innerhalb der Zahl der Bauarbeiter eine Differenzierung notwendig. So hatten einige überhaupt nicht vor ihren angestammten Wohnort zu verlassen und arbeiteten als reguläre Montagekräfte, die dann wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Dann gab es diese, die es ebenso handhaben wollten, aber aus unterschiedlichen Gründen dann ganz nach Schwedt gezogen sind. Und zuletzt gab es jene, die sich direkt mit einem beabsichtigten Wohnungswechsel nach Schwedt begaben. Meistens zog der Mann zuerst in eine Unterkunft ein und die Frauen folgten geraume Zeit später nach. So wurden aus nicht gemeldeten Bauarbeitern in der Stadt am Ende Einwohner, und die Zahl derer stieg enorm. Heute wäre man mit einer Nebenwohnung bereits erfaßt und die Entwicklung erschiene weniger dynamisch. Ganz davon abgesehen, daß sich heute mit Ausnahme von Großprojekten in den Papierfabriken oder der PCK AG nur kurzzeitig oder geringfügig Montagekräfte in Schwedt aufhalten und das Baugeschehen von regionalen Firmen bestimmt wird.
Vollkommen verworren wird es dann ab den 70-er Jahren mit der Ankunft von Gastarbeitern für den Aufbau neuer Anlagen im PCK und als Einsatz von Arbeitern in anderen Betrieben der Stadt. Im Buch "Verbaute Träume" von Philipp Springer gibt es dazu ausführliche interessante Erläuterungen. Nahm die Zahl der deutschen Bauarbeiter in dieser Zeit kontinuierlich ab, so stiegen die Gastarbeiterzahlen um so mehr. Aber auch diese Arbeitskräfte unterlagen der Meldepflicht nach einem halben Jahr. So ist es nicht verwunderlich, daß die höchste gemeldete Einwohnerzahl von 54.809 im Jahre 1980 u.a. mit der Anwesenheit von >1000 Polen ab 1978, >2000 Jugoslawen ab 1979 und etwa 400 Indern ab 1980 zusammentrifft. Ein Indiz dafür dürften die Vergleichzahlen der männlichen und weiblichen Bevölkerung sein. Hatten die Frauen und Mädchen 1976 noch einen Überschuß von 377 (24.627 w zu 24.250 m) so waren die Männer 1980 mit 2.475 (28.662 m zu 26.187 w) in der Überzahl. Ob überhaupt und wie die Gastarbeiter erfaßt wurden, bleibt allerdings spekulativ. Ich möchte lediglich auf eventuelle Zusammenhänge hinweisen, denn ein Anstieg der Bevölkerung bei Ankunft und ein Absinken bei Abreise der Arbeitskräfte kann kein Zufall sein. Bereits 1981 hatte sich das Verhältnis wieder auf einem Pegel von knapp über 26.000 pro Geschlecht angeglichen, weil u.a. auch die ersten Gastarbeiter zu diesem Zeitpunkt wieder heimkehrten. Während der Frauenanteil bis 1990 etwa konstant blieb, sank der männliche Anteil bis zu seinem Tiefstand 1984 auf ca. 24.600 ab.
Diese enormen Schwankungen in kürzesten Zeiträumen können nur über die Einbeziehung der Gastarbeiter in die Meldepflicht erklärt werden. Deren Abzug nach Beendigung diverser Bauprojekte bewirkte nach meinen Erkenntnissen hauptsächlich das Absinken der Bevölkerungszahl in den 80-er Jahren, während die Zahl der eigentlichen Einwohner in etwa stabil blieb. Der geringfügige Anstieg ab 1987 dürfte dem Einsatz von ca. 250 Vietnamesen (hauptsächlich Frauen) und ca. 50 Kubanerinnen (Zahl aus aktueller Literatur "Industriestadt Schwedt" von Thomas Janssen - nach meiner eigenen Erfahrung müssen es deutlich mehr gewesen sein) in der Schuhfabrik geschuldet sein. Dies würde wiederum den stetig gewachsenen Frauenüberschuß in diesem Zeitraum erklären. Die Bau- und Arbeitskräfte verließen nach den gesellschaftlichen Umbrüchen nach 1989 mehr oder weniger schnell unsere Stadt und sorgten bereits vor der großen Abwanderungswelle für einen merklichen Bevölkerungsschwund.
Die Problematik der Eingemeindung neuer Ortsteile kann aus meiner Sicht vernachlässigt werden. Die durch preisgünstiges Bauland ins Umland gelockten Schwedter kamen zum Großteil durch Eingemeindungen als Einwohner wieder zurück. Manche schwedtnahen Orte haben nach 1990 ihre Einwohnerzahlen nahezu verdoppelt oder gar verdreifacht. Im Gesamtbild waren die früheren Einwohnerzahlen dieser Ortsteile teilweise so gering, daß sie heute vernachlässigt werden können. Der Zugewinn der Stadt Schwedt von vielleicht knapp über 2000 "Altbürgern" der Ortsteile kann mit dem Bevölkerungsverlußt an Orte wie Berkholz-Meyenburg, Felchow oder Schöneberg u.a., die anderen Verwaltungsstrukturen, sprich Gemeinden oder Ämtern zugeordnet sind, nahezu ausgeglichen werden und ist daher kaum von Bedeutung.

Fazit

Nach heutigem Erfassungsmodus hatte die Stadt Schwedt wahrscheinlich nie oder nur kurzzeitig um 1980 über 50.000 Einwohner mit Hauptwohnsitz. Mit den Bau- und Gastarbeitern, sowie den auswärtigen Lehrlingen in den Wohnheimen des PCK, der Papierfabrik, des BMK, der Schuhfabrik u.a. dürften sich allerdings teilweise bis zu 58.000 Leute in der Stadt aufgehalten haben. Hinweise dafür dürften auch im Wohnungsbestand von über 20.000 vor der "Wende" zu finden sein. Bei einem durchschnittlichen Besatz von knapp 3 Personen pro Wohnung kommt man dieser Größe sehr nah. Denn lokaler Wohnraum diente auch mit einer hohen Belegungsdichte zur Unterbringung von Gastarbeitern.
Legt man umgekehrt für heutige Zahlen die Maßstäbe von vor 1990 an, so könnte man noch immer von knapp 40.000 Personen ausgehen, die sich in Schwedt aufhalten.
Festzuhalten bleibt, daß ein frei interpretierbares Fenster von 2-4000 Einwohnern nicht zu vergleichen ist. Als kleiner Trost steht am Ende ein etwas geringerer Einwohnerverlußt als öffentlich dargestellt wird. Nach dem von mir ausgewerteten Zahlenmaterial könnte die direkte Bevölkerung von etwa ca. 48.000 im Jahre 1990 auf heute etwa 36.000 abgesunken sein. Das entspräche einem realen Bevölkerungsverlußt von 12.000 anstatt 18.000. Immerhin ein Drittel weniger.

(DS 2007)

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